Die schönste Version

Buchseite und Rezensionen zu 'Die schönste Version' von Ruth-Maria Thomas
4.75
4.8 von 5 (4 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Die schönste Version"

Format:Kindle Ausgabe
Seiten:265
EAN:

Rezensionen zu "Die schönste Version"

  1. Schwer erträgliches Lesehighlight

    Als Jella und Yannick sich kennenlernen ist Jella überglücklich, die ganz große Liebe gefunden zu haben. Ihr Leben scheint perfekt und so willigt sie mit nur ganz leichten Zweifeln ein, gemeinsam in eine Wohnung zu ziehen, die für sie als Studentin viel zu teuer ist. Und dann fängt die Hochglanzfassade an zu bröckeln. Auf heftigste Auseinandersetzungen folgen ebenso heftige Versöhnungen, bis Jella schließlich auf einer Polizeiwache Anzeige wegen häuslicher Gewalt erstattet und zurück zu ihrem Vater in ihr altes Kinderzimmer flüchtet.

    In den folgenden elf Tagen versinkt Jella in ihrem Schmerz, versucht das Geschehene zu verstehen, blickt auf die Vergangenheit zurück. Und die hat es in sich. Eine Kindheit in der Lausitz, die Trennung der Eltern ohne dramatische Zerwürfnisse, die Entscheidung beim bedürftigeren Vater zu bleiben, Freundschaften, erste negative Erfahrungen mit Männern. Und dann Abitur, Studium und schließlich Yannick, den sie so gerne auch jetzt noch lieben würde.

    Für mich gehört dieser Roman zu meinen absoluten Lesehighlights des Jahres! Sprachlich überzeugend, wenn auch teilweise sehr drastisch formuliert. Wichtiger finde ich aber die Innenansichten und den Blick auf die weibliche Sozialisation, die am Beispiel von Jella alltägliche Gewalt in heterosexuellen Beziehungen aufzeigt, die mit Yannick nur ihren Höhepunkt erreicht hat. Das fatale Bemühen von Mädchen und Frauen zu gefallen und dabei die eigenen Bedürfnisse hintenanzustellen oder gar nicht erst zu entdecken, wird in diesem Roman sehr eindrucksvoll hinterfragt.

    Eigentlich würde ich dieses Buch am liebsten jedem Menschen empfehlen, aber es benötigt definitiv eine Triggerwarnung.

  1. 4
    03. Okt 2024 

    Über die Liebe

    Dieses Buch zu lesen schmerzt. Es hat in meinem Kopf viele Fragen entstehen lassen. Wieso gieren Jugendliche so sehr nach Liebe, dass vor allem Mädchen alles mit sich machen lassen? Warum bringt ihnen niemand rechtzeitig bei, sich gegen tätliche Übergriffe zu schützen?

    Doch von vorn: Jella glaubt in Yannick den Menschen gefunden zu haben, mit dem echte Liebe möglich ist. Bis er sie während eines Streites würgt. Da flieht sie zurück ins Elternhaus.
    In den nächsten Tagen lässt sie ihre Vergangenheit Revue passieren. Sie denkt zurück an ihre Jugend, an ihre Freundin, mit der sie sich extra schön hergerichtet hat, um Jungs zu gefallen. Und an ihre ersten Erfahrungen, die mir vor Entsetzen die Atemluft raubten.
    Yella ist nicht dumm, sie studiert und verdient sich in einer Bibliothek ihren Unterhalt. Als Yannick in ihr Leben tritt, fühlt sie sich geliebt. Ihr Leben verändert sich, sie ziehen zusammen. Er, der erfolglose Künstler, Sohn reicher Eltern, engt sie aber auch ein. Gesteht ihr weniger Freiraum zu. Immer öfter kommt es zu Auseinandersetzungen, die mit eine Versöhnung enden. Bis alles eskaliert und sie in ein Trauma reißt.

    Es ist nicht das erste Buch, das ich in letzter Zeit über toxische Beziehungen las. Das scheint augenblicklich eines der Modethemen zu sein. Wahrscheinlich reichen Zeitungsmeldungen über Familiendramen nicht aus, um die Gesellschaft aufzurütteln. Können Bücher mehr bewirken? Erreichen sie die richtigen Adressaten? Können sie Mädchen einen Spiegel vorhalten und sie dazu auffordern, nicht alles mit sich machen zu lassen? Wie kann man Jugendlichen näherbringen, wie wichtig Respekt für ein gelingendes Leben ist?

    Fazit: Dieses Buch lässt mich aufgewühlt zurück.

  1. 5
    10. Aug 2024 

    Schonungsloses Lesehighlight

    Jella findet sich auf der Polizeiwache wieder, nachdem sie von ihrem Partner im Streit gewürgt und mit dem Umbringen bedroht wurde. Sie kann die Situation gar nicht fassen und weiß nicht so recht, wie es nun weitergehen soll. Schließlich findet sie sich bei ihrem Vater ein und beginnt nicht nur ihre Beziehung zu Yannick zu rekapitulieren, sondern ihr komplettes Leben. Wie konnte es nur so weit kommen?

    Ruth-Maria Thomas gelingt mit "Die schönste Version" ein beeindruckendes Romandebüt, das schonungslos das Thema Partnergewalt mit all seinen Facetten aufzeigt: die einlullende Masche der Täter, die großen Selbstzweifel, die Menschen, die einem nicht glauben, die Realität, die Frau nicht wahrhaben will, den Rechtfertigungszwang und vor allem die patriarchalen Strukturen - die "kleinen" bis großen Übergriffe, denen Frauen ausgesetzt sind und sich selbst oft übergehen, weil sie es so gelernt haben; es gewohnt sind. Ständig wird die Selbstbestimmung, das sich-entwickeln-Wollen dargestellt, als wären wir Frauen alle selbst daran schuld, Opfer zu werden - ja, so wurden wir alle sozialisiert. Dass NEIN wird geflissentlich ignoriert, denn Mann dachte, sie wollte es doch eigentlich so. Die Autorin spart nicht damit den Ausnahmezustand facettenreich darzustellen, den eigenen inneren Widerstand, die ständigen Selbsthinterfragungen.

    Beeindruckend ist auch die Sprache von Ruth-Maria Thomas. Das erste was mir dazu eingefallen ist, ist das Wort "derb", besonders, weil sie so offen und klar die sexuellen Bedürfnisse der Protagonistin darlegt - aber dafür "derb" zu verwenden, könnte falscher nicht sein, wir sind es bloß nicht gewohnt, dass auch Frauen ihre Wünsche offen artikulieren. Im wahrsten Sinne atemberaubend sind auch die inneren Monologe, die Jella mit sich führt, die getränkt sind voller Zweifel - war das Erlebte wirklich so schlimm, trägt sie nicht selbst Schuld an dem, was ihr passiert ist? Nein, tut sie nicht, trotzdem wurde uns Frauen Jahrtausende eingeimpft, dass wir das Problem sind, wie könnten wir da anders als an uns selbst zu zweifeln?

    Einzig wie das Thema Freundschaft dargestellt wird, konnte mich nicht einhundertprozentig überzeugen, zwar gibt es eine Freundin, die Halt und Unterstützung bietet, aber trotzdem recht oberflächlich bleibt.

    Das Ende des Romans verläuft anders, als Statistiken und sozialarbeiterische Erfahrungen es voraussagen würden, aber es gibt Hoffnung, dass wir uns irgendwann gegen das Sozialisierte stellen.

    Mein Fazit: ein grandioser Roman, der das Thema Partnergewalt in den Mittelpunkt stellt, ohne offensichtlich zu sein. Es rekonstruiert anhand der Rückschau auf das bisherige Leben der Protagonistin die traurige Realität des Patriarchats - einfühlsam, ehrlich und selbstreflexiv. Für mich ein absolutes Lesehighlight des Jahres 2024, ein Roman, der lange nachhallt und ganz bestimmt noch einmal gelesen werden wird.

  1. Was es heißt Frau zu sein

    Sie verlassen das Zelt, die Musik spielt ohne sie weiter. Gehen die paar Schritte zum See, fallen ins Gras, Blütenduft, Sterne, zarte Küsse. Jella und Yannick, Yannick und Jella.

    Wenn du ein Moment wärst, sagt Yannick, dann dieser. S. 7

    Jella in ihrer Küche, sie waren gerade zusammengezogen. Eingeklemmt zwischen Vorratsschrank und Yannick. Er drückt mit beiden Händen zu, keine Luft, Augenflimmern, Ohrenpochen, Jella wird sterben, ganz weiche Beine, Keramikpfeffermühle, kurze Erschütterung, stolpern, zur Tür, Treppen, Haustüre, Jella rennt in die Joggerin, krallt sich an ihr fest, Hilfe.

    Jella sitzt in ihrem alten Kinderzimmer, in der Wohnung ihres Vaters und denkt zurück. Sie war fünf, als sie in eine Etagenwohnung in die Stadt zogen. Sie vermisste die anderen Kinder, den Wald, die Hütten am Fluss, die sie in die Bäume gebaut hatten. Mutter wollte sich verändern, keinesfalls in das Haus ihrer Schwiegermutter, ein bisschen arbeiten.

    Nur mein Vater spielte nicht so recht mit in ihrer fröhlichen Vision für einen Neuanfang. Er saß die meiste Zeit auf dem Sofa und starrte aus dem Fenster, Kopfhörer mit langem Kabel auf den Ohren, weil meine Mutter die traurigen klassischen Balladen nicht mehr aushielt, die langsam und in Moll waren, wo ihr Leben doch jetzt crescendo war und Dur. S.25

    Jella hat Anzeige erstattet, sonst kann sie es keinem erzählen, beim besten Willen nicht, denn dann ist es ausgesprochen und wahr. Sie zweifelt an sich, war es wirklich so schlimm? Er hat ihr in den Bauch geschlagen, in den, den er sonst streichelt und ihr ihre Bauchwürde genommen, den Hals zugedrückt und ihr ihre Halswürde genommen. Ihre Alleswürde hat er ihr genommen und es war schlimm. Jella vermisst Yannick, nicht den, den anderen Yannick.

    Fazit: Was für eine wichtige und großartige Geschichte. Ruth-Maria Thomas hat ein vollkommen normales und weitverbreitetes unangenehmes und gefährliches Phänomen enttabuisiert. Die Gewalt gegen Frauen, die schon in sehr jungen Jahren anfängt. Egal, was Mädchen machen, es ist falsch und kann zu den falschen Schlüssen führen. Dein Rock war zu kurz! Was hast du auch nachts draußen zu suchen? Du hättest öfter Nein sagen sollen. Du warst betrunken. Warum hast du dich nicht gewehrt? Selbst schuld! Nahezu alles, was die Autorin absolut authentisch zeigt, habe ich ebenfalls erlebt und dass ich 40 Jahre vor der Protagonistin geboren bin, sollte nachdenklich stimmen, es hat sich nichts geändert. Frauen werden angegriffen und haben sich dafür zu rechtfertigen, nicht der Angreifer. Dieses Buch ist so realistisch geschrieben und gedacht. Es ist gesellschaftlich wichtig und ich hoffe, dass es groß wird und oft gelesen wird. Für alle, die die Entwicklungsgeschichte junger Mädchen verstehen will, für alle jungen Frauen, die sich verstehen wollen. Für alle, die an diesem System zweifeln, ein absolut feministisches Debüt. Meine Güte, lest es!